Informationen unserer Mitglieder | 14.06.2024
Als Literaturwissenschaftler ist man nach herkömmlicher Ansicht verpflichtet, unter dem Diktat der „strengen Wissenschaft“ die genaue historisch-philologische Rekonstruktion der Bedeutung eines Textes in kritisch reflektierten Methoden und Theorien anzustreben. Dass dahinter natürlich immer subjektive Intentionen, persönliche Vorlieben, einseitige Erkenntnisinteressen stehen, die uns nicht immer bewusst zu sein brauchen, wird über diesem Forschungsideal oft übersehen.
Die Rubrik „Mein Hölderlin“ dagegen lädt ein, diese individuellen Motivationen offen zu thematisieren, und das will ich in den folgenden Bemerkungen versuchen. Aber da stellt sich gleich ein Hindernis in den Weg: Ich kann mich keineswegs genau erinnern, wann, wie und warum gerade dieser Dichter ins Zentrum meiner Lesearbeit und wissenschaftlichen Forschung trat. Wie kam ich, der ich mich bislang vor allem der klassischen Moderne, besonders Franz Kafka und Walter Benjamin, gewidmet hatte, zum wohl sprachgewaltigsten Vertreter der klassisch-romantischen Kunstperiode? Ich weiss es nicht genau, die schier unwiderstehliche Kraft, mit der mich Hölderlin bannt, geht einher mit dem weitgehenden Verwehen der Spuren, die dahin geführt haben mögen.
Erst beim gründlicheren Nachdenken ist mir freilich klar geworden, warum mich am Sprachkünstler Hölderlin gerade das Musikalisch-Klangliche interessiert: Neben meiner Tätigkeit als Literaturwissenschafter bin ich auch als nicht-professioneller Organist und Cembalist tätig, freilich mit einer Vorliebe für das Barock-Repertoire, das zumindest zeitlich wenig mit der Epoche Hölderlins zu tun hat. Der Literatur- und Kulturwissenschaft gilt mein professionelles Arbeiten, der Musik aber eine sehr eigenwillig persönliche Liebe, der ich als Amateur auf ungezwungenere Weise nachgehe, als es von meinen Berufskollegen und -kolleginnen erwartet wird. Womöglich hat gerade diese ganz anders gelagerte Musikpraxis in mir die Empfänglichkeit für die poetische Klangwelt dieses Dichters geschürt? Dieser war ja bekanntlich selbst in seinen frühen Jahren ein begabter Flötist und noch während seiner Spätzeit im Tübinger Turm pflegte er seinen wirren Sprachfluss durch freie Klavier-Improvisationen zu unterbrechen, die auch bei seinen spärlichen Besuchern ein teilnahmsvolles Echo fanden.
Wie dem auch sei: Was mich gegenwärtig an Hölderlin besonders fasziniert, ist das Paradox, dass sein poetisches Schaffen nicht primär aus dem ihm historisch überlieferten Sprachmaterial, sondern untergründig aus der Musik—sei es als ideale Klangwelt oder reale Performanz—hervorging. Spätestens seit 1800 verstand der Dichter, trotz seiner immer wieder thematisierten Beschäftigung mit der „Schrift“ und der bildlich-visuellen Wahrnehmung, seine eigene Aktivität vorwiegend akustisch, als „Gesang“ und „Saitenspiel“, also als sprachlich-poetische Umsetzung einer zutiefst musikalischen Intention und Grundstimmung. Seine auditive Imagination lauschte daher immer wieder den Tönen des Himmlischen, der Natur, ja selbst der historischen Überlieferung. So heisst es in „Germanien“: „Es rauschen die Wasser am Fels / Und Wetter im Wald und bei dem Nahmen derselben / Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder“ (S. 407, Z. 98-100).[1]
Wieso „tönt“? Warum diese eigenwillige Betonung einer Überlieferung, die doch traditionell schriftlich bewahrt ist? Aber für Hölderlin ist dieses göttliche Mysterium, gerade im Zusammenhang der Beschwörung des „wehrlos[en] Rath[s]“ der prophetischen Priesterin (Z. 110-11), inmitten der geläufigen Naturlaute nichts, was aus festen Buchstaben hermeneutisch entzifferbar ist, sondern etwas primär Auditives, ein flüchtiges, aber deshalb umso bedeutungsvolleres Echo.
An derartigen Passagen fasziniert mich immer wieder, wie Hölderlin historische, politische und kulturelle Themen von höchster Dringlichkeit zum imaginären Hören zu bringen versucht. Hierbei zeigt sich oft, dass das rätselhafte Tönen immer wieder eben jene poetische Sprache zu sprengen scheint, die doch mutmasslich die Aufgabe hat, dieses Klingen in der visuell wahrnehmbaren Schrift zu reproduzieren. Dies meine ich aber beileibe nicht als ein Scheitern: Im Gegenteil, höchst selbst-reflexiv erkundet Hölderlin in immer neuen Varianten, Ansätzen und Abbrüchen das im allgemeinsten Sinne Musikalische als die unergründliche Tiefenstruktur, aus der das Sprachlich-Dichterische an die wie immer unsichere Oberfläche des möglich Lesbaren dringt.[2]
Zu Recht hat sich die Hölderlin-Forschung oft mit der poetisch-selbstreflexiven Sprache und der fesselnden Bildlichkeit seiner kühnen Metaphern auseinandergesetzt. Dies geschah nicht zuletzt durch die Rezeption der französischen und später US-amerikanischen Theorien von Poststrukturalismus und Dekonstruktion. Aber auch der “visual turn” in der Diskussion um visuelle Wahrnehmung und medientechnologische Repräsentation kann hier Wesentliches beitragen. Was dabei allerdings nicht immer genug berücksichtigt wurde, ist die Einsicht, dass sich Hölderlins Sprach- und Bildbesessenheit in eine lange Tradition einordnen lässt, die spätestens seit der Romantik und dann verstärkt in der klassischen Moderne die philosophisch-literarische Privilegierung sprachlich-visueller Wahrnehmung durch die Betonung der musikalisch-auditiven Welterfahrung erweitert und in Frage stellt. Kafka, Rilke und andere haben in immer neuen Variationen die These verfochten, dass die Musik ein Wahrheitsangebot oder zumindest eine direkt körperlich-affektive Macht besitzt, die über das rein arbiträre und deshalb desorientierende Signifikanten-Spiel der verbalen Sprache hinausreicht und, zusammen mit der bildlichen Fantasie, der passend so genannten Einbildungskraft, die Welt hörend erschliesst. Hier bietet Hölderlin immer noch Anregungen, die von musikalisch orientierten ForscherInnen natürlich schon lange bearbeitet worden sind, aber noch weiterer Erkundung harren.
Abschließend: Sicher muss die Literaturwissenschaft, wie alle anderen Disziplinen, weiterhin an allgemeinen Qualitätsprinzipien—genaues Quellenstudium, offene Darlegung des eigenen Ansatzes, Methodenreflexion, nachvollziehbare Argumentation—festhalten, um nicht in beliebiger Spekulation oder leichtherzigem Dilettantismus zu enden. Aber nochmals: über diese Standards hinaus sollten wir nie die irreduzibel subjektiven Antriebe der Forschung vergessen. Sie sind es, nicht ausschliesslich das Prestige einer Zeitschrift oder eines Verlags, die peer reviews und Rezensionen, die letztlich die Authentizität, den intellektuellen Wahrheitsanspruch und das Echo beim Publikum bestimmen. Im zusehends auf finanziell motivierte Effizienz, quantitativ messbare Erfolge, Drittmittel-Erwerb und anderen Zwänge fixierten modernen Uni-Management ist gerade dieses offene Bekenntnis zur Forscher-Subjektivität (Mein Hölderlin!) unverzichtbar.
Rolf Goebel
Distinguished Prof. of German, Emeritus
University of Alabama in Huntsville
goebelr@uah.edu
Rolf J. Goebel, geb. 1952. Studium der Anglistik und Germanistik. Promotion 1982. Distinguished Professor of German, Emeritus, University of Alabama in Huntsville. Jüngste Publikationen: “The Sound of Benjamin’s Arcades.” Passages: Moving Beyond Liminality in the Study of Literature and Culture, hg. Elizabeth Kovach, Jens Kugele, and Ansgar Nünning (2022); “Zeit und Klang: Kafkas auditive Atmosphären.” Kafkas Zeiten, hg. Alexander Kling and Johannes F. Lehmann (2023); A Companion to Sound in German-Speaking Cultures. Rochester, NY: Camden House, 2023; “‘And the Script Sounds’: Literary Hermeneutics and Imaginary Listening.” Humanities 2024, 13, 107. https://doi.org/10.3390/h13040107. E-Mail: Goebelr@uah.edu
[1] Alle Zitate aus Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. von Michael Knaupp, München: Carl Hanser, 1992.
[2] Mehr zum Thema: https://www.mdpi.com/2076-0787/13/4/107